Die Interaktivität von Raum informeller Siedlungen
Kathrin Wieck

Urbane Informalität ist ein deutlicher Ausdruck der Transformationsprozesse städtischer Räume unter globalen Urbanisierungsbedingungen. Sie stellt sich insbesondere in den Megastädten des globalen Südens als Überlebenskampf der sozial und ökonomisch Benachteiligten, aber auch als enge Verflochtenheit mit den urbanen Entwicklungsprozessen dar. Informelle Siedlungen sind von Armut, Unsicherheit und Vulnerabilität geprägt. Sowohl in der politischen Rahmensetzung als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden sie bis auf wenige integrative Ansätze bis heute als Problem sozialer, räumlicher und ökologischer Prekarität sowie als Formen der Landbesetzung behandelt, die sich außerhalb der gesetzlichen Normen situieren. Sie spiegeln jedoch auch einen hohen Grad an Selbstorganisation zur Sicherung des Überlebens wieder. Diese drückt sich durch eine gemeinschaftliche Regulierung der Siedlungsräume und Selbstkonstruktion von Infrastrukturen in Abhängigkeit zu städtischer Wohnungsbaupolitik und der Implementierung von Sanierungsprojekten aus. Die Raumproduktion informeller Siedlungen ist durch ein Ineinandergreifen verschiedener und differenzierter Akteursnetzwerke und Interessen geprägt sowie durch eine enge Verbundenheit der Bewohner mit ihrem Wohn- und Siedlungsraum.

Vor dem Hintergrund, ein komplexeres Verständnis dieser wechselseitigen Prozesse zu entwickeln, richtet sich die Arbeit auf die Offenlegung der spezifischen Beziehungen zwischen den Akteuren der Raumproduktion und dem Raum informeller Siedlungen. Am Beispiel des Favelakomplexes Manguinhos in Rio de Janeiro wird untersucht, wie diese Prozesse sich entwickeln und welche Akteursnetzwerke daran beteiligt sind. Mit dem Ansatz der Arbeit wird eine neutrale Perspektive verfolgt, die den Raum informeller Siedlungen im Kontext seiner Interaktivität thematisiert. Aus dem Blickwinkel einer raumgestaltenden Disziplin ist Gegenstand der Arbeit die Entwicklung und Anwendung einer theoretisch-analytischen Methode. Sie verbindet sozialwissenschaftliche und architektonische Ansätze, die Raum in seiner interaktiven Rolle und als soziales Konstrukt verstehen. Die Erarbeitung der Methode basiert auf einer grundlegenden Auseinandersetzung mit Henri Lefebvres Werk ‚La production de l’espace‘ von 1974 und seinem Verständnis des sozialen Raums. Sie richtet sich auf Lefebvres theoretisch-methodischen Ansatz, urbanen Raum als Produkt der Interaktion sozialer Beziehungen zwischen der Gesellschaft und den Individuen sowie im Prozess seiner Produktion zu decodieren. Es wird eine konzeptionelle und räumliche Lesart seiner Dimensionen des sozialen Raums herausgearbeitet. Die Methode richtet sich auf die Charakteristik und Entschlüsselung von räumlicher Interaktivität innerhalb der Siedlungs- und Freiraumproduktion informeller Siedlungen. Mit einer analytischen Untersuchung von 14 Comunidades innerhalb des Favelakomplexes Manguinhos kommt die Methode exemplarisch zum Einsatz. Anhand des Entwicklungsprozesses der einzelnen Siedlungsräume sowie der alltäglichen Prozesse der Freiraumproduktion wird die Komplexität und Dynamik der jeweiligen Raumproduktion sichtbar gemacht. Dazu zählt die Offenlegung der beteiligten Akteursnetzwerke, ihrer sozialen und räumlichen Praktiken der Interaktion sowie den daraus sich abbildenden differenzierten Raumstrukturen.

Die Arbeit schließt mit einer Formulierung möglicher Entwicklungstendenzen anhand der markierten interaktiven Schnittstellen des Ineinandergreifens der Akteure und ihres Siedlungs- und Freiraums. Sie zeigt eine Einschätzung über mögliche Tendenzen der Reproduktion und Vervielfältigung, aber auch als Katalysator zur sozialräumlichen Konsolidierung informeller Siedlungen. Es wird eine Wissensbasis geschaffen, die das theoretisch-methodische Raumkonzept Lefebvres für eine analytische Untersuchung sozialer Problemstellungen anwendbar macht. Damit werden die Akteur-Raum-Beziehungen als Schnittstellen markiert für die Prognose der Wachstumsdynamik informeller Siedlungen, die mit dem Risiko einer Ausbreitung des informellen Bodenmarktes, aber auch als soziales und räumliches Regenerationspotenzial mit einer urbanen Tragweite sichtbar gemacht werden können. Die Arbeit versteht sich als interdisziplinärer theoretisch-analytischer Beitrag für eine Erweiterung des wissenschaftlichen Diskurses zur urbanen Informalität.